Plastikabfall – die unterschätzte Gefahr

Plastikabfall – die unterschätzte Gefahr

Plastikabfall – die unterschätzte Gefahr 1024 574 Trendsformative

Jeder Mensch nimmt im Durchschnitt fünf Gramm Plastik pro Woche zu sich, so das Ergebnis einer aktuellen US-Studie, die weltweit für Schlagzeilen gesorgt hat. Meere und Ozeane, so viel war bekannt, sind voll mit Plastikmüll in unterschiedlichen Zersetzungszuständen. Dass Kunststoff jedoch auch vom menschlichen Körper aufgenommen wird, ist neu – und schärft das allgemeine Bewusstsein für die Brisanz der Situation.

Behörden, Industrieunternehmen und Verbraucher, Finanzinstitute und Umweltaktivisten suchen gemeinsam nach Lösungen für ein Problem, das offenbar außer Kontrolle geraten ist. Und es ist höchste Zeit.

Süchtig nach Plastik

Plastik wurde erstmals 1907 aus Bakelit und dann Cellophan hergestellt und verbreitete sich insbesondere ab den 1950er Jahren rasant. Im Zweiten Weltkrieg brachten US-Soldaten erstmals die 1937 erfundenen Nylonstrümpfe nach Frankreich. 1946 erblickte Tupperware das Licht der Welt und wurde für viele Jahre zum Symbol des Erfolgs von Kunststoffen in den Industrieländern – bis Umweltschützer das Emblem der Moderne erstmals infrage stellten. Kunststoff hat viele Qualitäten: Er ist leicht, wasserdicht, hygienisch, formbar, solide, langlebig, wirtschaftlich und vielseitig und seit Langem eine Begleiterscheinung wirtschaftlichen Wachstums. Kunststoff ist heute überall, in unseren Küchen und Badezimmern ebenso wie in Kleidern und Elektrogeräten. Wie ein US-Journalist vor Kurzem ausgerechnet hat, kommen wir täglich mit 200 Gegenständen aus Kunststoff in Kontakt – mehr als mit allen anderen Materialien zusammen.

Die schwierige Entsorgung von Kunststoffabfällen

Die Qualitäten des Kunststoffs sind jedoch gleichzeitig seine Schwächen, denn Kunststoff verrottet nicht und ist kaum abbaubar. Durch wachsende Umweltbedenken und die explosionsartige Zunahme von Einwegverpackungen ist die Entsorgung von Plastik zu einem zentralen Anliegen geworden.

Seit 1950 hat die Menschheit knapp zehn Milliarden Tonnen Plastik produziert, von denen lediglich 12% verbrannt und 9% recycelt wurden. Der Rest ist in der Natur gelandet, im Idealfall in „kontrollierten“ Deponien, in denen Abfall oft vergraben und mehr oder weniger erfolgreich vom Boden isoliert wird, zumindest in Industrieländern. Schlimmstenfalls in illegalen Deponien, wo sich das Material unter freiem Himmel zersetzt und dabei Methan freisetzt. Der Rest ist direkt in der Umwelt gelandet, wo er durch Wind, Regen und Wasser verteilt wird.

Die aktuellen Verfahren zur Entsorgung von Kunststoffabfällen sind aus ökologischer Sicht unzureichend. Ihre Verbrennung erfordert erhebliche Mengen hauptsächlich fossiler Brennstoffe und setzt zudem CO2 und andere Schadstoffe frei. Dies ist in Entwicklungs- und Schwellenländern besonders problematisch. Plastik wird hier in der Regel unkontrolliert verbrannt und setzt so hochgiftige Stoffe wie Dioxin und Benzol frei – oft in der Nähe großer Städte.

Auch Deponien sind keine Garantie für umweltschonende Entsorgung. Durch die Zersetzung von Kunststoffen in Mikropartikel und die Freisetzung von Säuren (z.B. aus nicht recycelten Batterien) entstehen extrem giftige Substanzen, die unser Hormonsystem schädigen und unter dem Verdacht stehen, krebserregend zu sein.

Der World Wildlife Fund (WWF) schätzt in einer aktuellen, richtungsweisenden Studie, dass 37% der weltweiten Kunststoffabfälle derzeit nicht umweltgerecht entsorgt werden. Abfälle werden nicht gesammelt, sondern in der Umwelt oder auf unkontrollierten Deponien entsorgt. Die Lage ist besorgniserregend, da 80% dieser Abfälle die Ökosysteme und insbesondere die Ozeane verschmutzen. So schätzt der WWF, dass 80% der Meeresverschmutzung ihren Ursprung auf dem Land hat.

Weltmeere in Not

Die Meere werden zunehmend zur Mülldeponie des Planeten, wie erschütternde Bilder von Meerestieren zeigen, die sich in Plastikmüll verfangen haben. Auch schwindelerregende Zahlen in Medien und sozialen Netzwerken belegen das Ausmaß der Umweltzerstörung. 1997 wurden mächtige Meeresströmungen entdeckt, in denen sich zersetzendes Plastik ansammelt und Plastikkontinente bildet. Der größte dieser Kontinente liegt im nördlichen Atlantik und ist sechsmal so groß wie Frankreich.

Auf dem Weltwirtschaftsforum im Jahr 2015 rüttelte Ellen MacArthur die Menschheit wach: In 20 Jahren, so die britische Seglerin, wird mehr Plastik als Fisch in unseren Meeren schwimmen, wenn wir nicht gegensteuern. Dabei lässt sich das Ausmaß schwer quantifizieren; Plastik wird durch Salz und Sonneneinstrahlung zu Mikro- und Nanoplastik zersetzt, der mit bloßem Auge nicht zu erkennen ist. Und dies ist vielleicht das größte Problem, denn die Partikel werden von dem Plankton, Krebs- und Weichtieren und Fischen aufgenommen, gelangen so in den Nahrungskreislauf und kontaminieren schließlich unsere Lebensmittel.

Kunststoff und Lebensmittel

Mittlerweile zeigen Studien, dass Menschen unwissend große Menge an Kunststoff-Nanopartikeln aufnehmen und einatmen. So nimmt ein amerikanischer Erwachsener über die Nahrung bzw. die Atemwege pro Jahr über 50.000 Partikel auf. Die primäre Quelle ist Wasser, insbesondere abgefülltes Wasser, das 20 Mal mehr Kunststoff enthält als Leitungswasser. Danach kommen Meeresfrüchte, Bier und Salz sowie Reifenabrieb, durch den Mikrokunststoffe in die Luft gelangen.

Dieser Umstand ist ein Warnsignal für Regierungen und die Öffentlichkeit, zumal erste Studien belegen, dass Kunststoffpartikel in menschliches Gewebe und Zellen eindringen könnten, was bisher ausgeschlossen wurde. In der Risikoanalyse stehen wir noch ganz am Anfang, doch die ersten Ergebnisse sind alles andere als beruhigend. Zum Beispiel gelangen die in unserer Kleidung und Kosmetik allgegenwärtigen Mikropartikel mit jedem Waschgang ins Abwasser, wo sie kaum geklärt werden können. Die Folgen dieser Verunreinigung sind bisher kaum untersucht.

Unsichtbare Bedrohung

Diese alarmierende Situation stellt eine Bedrohung für die Menschheit durch langfristige Auswirkungen auf unseren Stoffwechsel, Krebs und Missbildungen dar, die zwar erwiesen, aber schwer zu beziffern sind. Schlimmer noch: Plastik transportiert Bakterien ganz hervorragend, sowohl im Körper als auch in den Ozeanen. Die Bedrohung für Artenvielfalt und die maritimen Ökosysteme ist unbestreitbar und allgegenwärtig. Nicht nur, dass Kunststoff die Verbreitung invasiver Arten leichter zwischen Kontinenten erleichtert; er bindet auch pathogene Mikroorganismen, die für Mensch und Tier gefährlich sind. Das Risiko ist also sehr real und wird ökologische, gesundheitliche und wirtschaftliche Folgen haben, zum Beispiel für die Aquakultur, mit deren Erforschung wir gerade erst beginnen.

Wer ist schuld?

Warnungen vor den Folgen der Meeresverschmutzung haben die Öffentlichkeit sensibilisiert. Etwas utopisch mutet dabei die Forderung zum Sammeln von Plastik aus den Ozeanen an. Eher müssen wir das Problem an der Quelle und über den gesamten Zyklus von Plastikproduktion, -verwendung und -entsorgung angehen.

Die Verantwortung liegt somit an zahlreichen Stellen, von denen bisher jede die Verantwortung auf die nächste abgeschoben hat: Chemiker und Kunststoffproduzenten geben den Schwarzen Peter an ihre Kunden in der Lebensmittel- und Gesundheitsindustrie weiter, die ihrerseits auf das unverantwortliche Verhalten der Verbraucher verweisen, welche wiederum Mängel in kommunalen Sammelsystemen beklagen. So werden etwa in Paris weniger als 10% der Plastikflaschen gesammelt, sortiert und recycelt, Müll aus öffentlichen Mülleimern wird noch immer nicht getrennt. Gleichzeitig landet jede Minute das Äquivalent einer Tonne Abfall in den Meeren.

Öffentliche Mobilisierung

Mittlerweile steuern Regierungen jedoch gegen, im Mittelpunkt stehen dabei die omnipräsenten invasiven und schwer recycelbaren Einwegverpackungen. Als erstes Land hat Frankreich Einweg-Plastiktüten verboten, von denen jedes Jahr etwa eine Milliarde ausgegeben wurden. In den vergangenen 15 Jahren ist so der Verbrauch um 90% zurückgegangen. Und nach dem französischen Energiewendegesetz sollen auch Plastikbecher bis Ende des Jahres verboten werden.
Die Europäische Union hat vor Kurzem verbindlich erklärt, Geschirr, Besteck und Wattestäbchen aus Kunststoff bis 2021 und Einwegkunststoffe bis 2030 zu verbieten. Außerdem sollen 90% der Kunststoffflaschen gesammelt und der Anteil der recycelten Kunststoffabfälle bis 2025 auf 30% verdoppelt werden. Dies ist jedoch nur ein Teil des Problems, denn Einwegkunststoffe machen nur 4% der weltweiten Produktion aus. Was also sollen wir tun mit diesem allgegenwärtigen Stoff, der sich zu einer Bedrohung für Natur, Mensch und Artenvielfalt ausgewachsen hat. Die Lage scheint außer Kontrolle geraten zu sein, doch es gibt Lösungen. Diese setzen nicht nur kollektives und entschlossenes Handeln aller Beteiligten der Kunststoffkette voraus, von den Produzenten bis hin zu den Verbrauchern, sondern auch die Unterstützung nationaler Regierungen und supranationaler Institutionen.

„Wir können die ganze Welt und sogar das Leben selbst plastifizieren, denn schon bald werden wir in der Lage sein, auch eine Aorta aus Plastik herstellen.“ Diese Prophezeiung von Roland Barthes aus seinem 1957 erschienenen Buch Mythologien scheint sich siebzig Jahre später erfüllt zu haben: Plastik ist überall, auf den Spitzen der höchsten Gletscher ebenso wie auf dem Grund der tiefsten Meere. Es ist auf unseren Tellern und in unseren Mägen – und zweifellos bereits in unseren lebenswichtigen Organen. Es tötet – Tiere und vielleicht auch Menschen. Plastik ist ein globales Problem, denn genau wie Umweltverschmutzung und Kohlendioxid kennt es keine Grenzen. Lösungen existieren und können umgesetzt werden, doch es wird lange dauern, bis wir lernen, mit – und vor allem ohne – Plastik zu leben.

— Emmanuel Bonnard, Information Department / Communication Management der Crédit Agricole Group