SARS, Zika, Ebola und jetzt Covid-19? Den Ursprung des neuen Coronavirus werden wir wohl erst in einigen Jahren mit Sicherheit kennen, doch der Zusammenhang zwischen abnehmender Biodiversität und neuen epidemischen Infektionskrankheiten ist erwiesen. Die globale Pandemie sollte ein Weckruf sein, wir müssen unsere eigene Entwicklung dringend überdenken.
Eine tief greifende Störung der Ökosysteme
Überall auf der Welt greift der Mensch massiv in bestehende Ökosysteme ein. Diese Entwicklung nahm ihren Anfang bereits im 19. Jahrhundert mit der ersten industriellen Revolution, hat sich jedoch in den vergangenen Jahrzehnten dramatisch beschleunigt. Im Zentrum steht dabei eine drohende Klimakatastrophe, ausgelöst durch eine massive Freisetzung von Treibhausgasen1. Besorgniserregend ist jedoch auch ein anderes Phänomen, das mit der Klimakrise in direktem Zusammenhang steht: das Artensterben.
Seit dem Ursprung des Lebens mussten Tier- und Pflanzenarten zahlreiche Krisen überwinden, doch die aktuelle ist radikal anders, denn sie ist eine direkte Folge menschlicher Eingriffe und vollzieht sich in rasantem Tempo. Wie konnte es dazu kommen? „Die Krise der Biodiversität steht im Zusammenhang mit dem Umgang des Menschen mit lebenden Organismen“, so Philippe Grandcolas, Ökologe, Forschungsdirektor am CNRS und Direktor des Instituts für Systematik, Evolution & Biodiversität. „Die wichtigsten Ursachen sind Landnutzungsänderungen (Entwaldung, Trockenlegung von Feuchtgebieten usw.) und Raubbau (Fischerei, Bodenverarmung usw.). Eine Rolle spielt auch der bewusste oder unbewusste Transport von invasiven Arten, die sich in fremden Ökosystemen einnisten und deren Funktion stören.“ Erschwerend dazu kommen, drittens, die Erderwärmung selbst sowie, viertens, die Zunahme extrem giftiger Schadstoffe (Pestizide, Kunststoffe usw.).
Besonders betroffen sind die Ökosysteme der Ozeane, die 70% der Erde bedecken. „30% der Kohlenstoffemissionen werden vom Ozean aufgenommen“, so Françoise Gaill, emeritierte Forschungsleiterin am CNRS und Vizepräsidentin der „Ocean & Climate Platform“. „Der starke Anstieg der CO2-Emissionen verändert das chemische Gleichgewicht und führt zu einer erheblichen Versauerung. Das hat in erster Linie zur Folge, dass sich das Skelettgewebe von Panzertieren auflöst.“ Die Ozeane absorbieren außerdem 90% der durch Treibhausgase verursachten Wärme. Wenn die Wassertemperatur steigt, nimmt das Volumen zu. Der Anstieg des Meeresspiegels, der durch das Abschmelzen von Eis verstärkt wird, hat dramatische Folgen für Küstengebiete. Auch die wachsende Zahl anoxischer Gewässer mit akutem Sauerstoffmangel trägt zum Tod vieler Ökosysteme bei.
Eine alarmierende Zunahme von Infektionskrankheiten
All diese Zahlen sind ebenso bekannt wie die Gefahren, über die die Medien bei der Veröffentlichung neuer Studien regelmäßig berichten. Trotzdem rutschen sie auf unserer Prioritätenliste schnell auf den zweiten Platz ab, obwohl wegen der Pandemie sogar mehrere Weltereignisse verschoben werden mussten. Doch die Nachrichten der letzten Monate könnten einen Stimmungswandel einleiten und unsere Aufmerksamkeit auf eine weitere dramatische Folge der Krise unserer Ökosysteme lenken: die Entstehung neuer Krankheiten.
Infektionskrankheiten, die von Tieren auf Menschen übertragen werden können (sogenannte Zoonosen), gibt es seit Menschengedenken. Doch in weniger als einem Jahrhundert hat ihre Zahl erheblich zugenommen. „Wir haben zehnmal mehr Epidemien und vier- bis fünfmal so viele neue Krankheiten“, schätzt Philippe Grandcolas. „Ein Großteil der Infektionskrankheiten stammt von Tieren, die Infektionserreger in sich tragen.“ Diese Zunahme ist das Ergebnis einer Milieuveränderung: Wildtiere leben in der Nähe von Menschen und ihrem Vieh, oft unter schlechten hygienischen Bedingungen. „Unter solchen Bedingungen steigt das Risiko einer Rekombination oder Mutation von Viren und damit auch die Gefahr, dass diese Artenschranken überschreiten“, betont der Spezialist. H1N1 zum Beispiel ist eine Rekombination von Influenza- und Vogelgrippeviren, der erste SARS-Virus wurde durch Fledermaus- und Fleischfresserviren verursacht. Im Fall von Covid-19 gehen Forscher aktuell davon aus, dass SARS-Cov-2 das Ergebnis einer Rekombination zwischen Fledermaus- und Pangolinviren ist.
Zeit zu handeln
Wie können wir diese Risiken begrenzen? Eine Analyse der Lage ist relativ eindeutig: Durch Entwaldung wachsen die Berührungspunkte zwischen geschädigter Waldumgebung und Menschen – und damit auch die Gefahr. „Die Nähe zu Wildtieren und anderen Lebewesen, die auf Märkten verkauft werden, der Transport in Großstädte… all das begünstigt die Entstehung von Pandemien und muss daher eingeschränkt werden“, rät Philippe Grandcolas. Er betont jedoch auch, dass das nicht nur für Asien gilt, sondern für alle Regionen der Welt – auch für Europa. „In Frankreich zum Beispiel werden jedes Jahr Hunderttausende Füchse getötet, was jedoch das Problem der Tollwut nicht gelöst hat. Tollwut haben wir durch Impfköder in den Griff bekommen, durch das Ausrotten von Fuchspopulationen haben wir dagegen Nagetieren mehr Raum gegeben, die die Borreliose übertragen.“
Darüber hinaus lässt sich die Krise unserer Ökosysteme nur durch enge Zusammenarbeit der wichtigsten Akteure überwinden. Auch wenn der Multilateralismus selbst aktuell unter Druck steht, liegt die Entwicklung sektor- und länderübergreifender Lösungen, etwa die One Health Initiative, im ureigensten Interesse von Staaten und Unternehmen. Mit Unterstützung der WHO setzt sich One Health für eine integrierte, systemische und einheitliche Gesundheitsstrategie für Mensch, Tier und Umwelt ein, die sowohl lokal als auch national und global umgesetzt wird. Inzwischen werden überall auf der Welt Stimmen laut, die einen vollständigen Paradigmenwechsel fordern. Françoise Gaill weist darauf hin, dass wir wirtschaftliches Wachstum immer nur als „mehr“ interpretieren. „Die Entwicklung unseres Ökosystems ist dagegen eher S-förmig. Ökosysteme wachsen zunächst rasant; wenn sie jedoch einen gewissen Reifegrad erreicht haben, ist ihr Wachstum nur noch minimal. Wir sollten daher weniger über Wachstum nachdenken, sondern mehr über Reorganisation, damit wir es in Zukunft besser machen können. Was zählt, ist der qualitative Aspekt. Aus meiner Sicht sollte jede Investition in eine Kreislaufwirtschaft eingebettet sein, aber auch nach geostrategischen Kriterien (lokal, national, international) beurteilt werden.“
Leider zeigt die Geschichte, dass selbst größte und imminente Gefahren uns nicht zum Handeln veranlassen. Wir warten, bis uns die Gefahr direkt betrifft. Er dann machen wir uns das Ausmaß des Problems bewusst, und erst dann reagieren wir. Vielleicht ist dieser Zeitpunkt jetzt gekommen.