Die neue Seidenstraße, auch bekannt als „Belt and Road Initiative“ (BRI), bezeichnet einen Infrastrukturplan der chinesischen Regierung, der sowohl Luft-, Land- und Seewege als auch digitale Netze umfasst. Initiator der Strategie ist der chinesische Staatspräsident Xi Jinping. Beobachter interessieren sich unter anderem für die Bedeutung des Projekts für die Agrar- und Lebensmittelindustrie: Ist die Seidenstraße schlichtweg notwendig für das bevölkerungsreichste Land der Welt, oder will China seinen Einfluss auf die globale Agrar- und Lebensmittelversorgung ausbauen?
Insbesondere durch den Ausbau von Transportwegen zu Land und zu Wasser (Häfen, Straßen- und Eisenbahnknotenpunkte sowie Energie, industrielle und digitale Ressourcen) will China den Transport von Gütern, Personen und Dienstleistungen erleichtern und beschleunigen. Die von Xi Jinping im Jahr 2013 persönlich ins Leben gerufene Belt and Road Initiative erstreckt sich nicht nur über den gesamten eurasischen Kontinent, sondern schließt auch Ostafrika an, wo China bereits jetzt sehr präsent ist.
Besonders gut aufgenommen wird die Strategie in kleinen Ländern, die durch sichtbar wachsenden Wohlstand und eine positive demografische Entwicklung von dem Projekt profitieren. Tatsächlich liegen diese Länder strategisch günstig entlang der im Rahmen der BRI definierten Routen, und die chinesische Regierung sorgt dafür, dass gemeinschaftliche Projekte unter ihrer Kontrolle bleiben. Durch die Umsetzung haben sich einige Länder insbesondere in Afrika hoch verschuldet. Gläubiger sind chinesischen Banken.
Sinkende Kosten und Transitzeiten
Natürlich dient die neue Seidenstraße dem Transport diverser Güter von und nach China. Durch kürzere Transitzeiten sinken die Transportkosten. Der Warenverkehr zwischen Ostchina und Europa kann jetzt regelmäßig in weniger als drei Wochen abgewickelt werden, der Seeweg ist mehr als doppelt so lang.
Der Güterverkehr auf dem Land- und insbesondere auf dem Schienenweg ist ein Kompromiss zwischen dem Seeverkehr mit hohen Kapazitäten bei niedrigem Tempo und dem Luftverkehr, der schnell, aber teuer ist.
Chinas Rohstoffbedarf wächst
Die mehrdimensionale Strategie der chinesischen Regierung zielt eindeutig auch auf landwirtschaftliche und andere Lebensmittelerzeugnisse ab. Nach vierzig Jahren Wachstum übersteigt der Verbrauch Chinas seine eigenen Produktionskapazitäten bei Weitem. Die Bevölkerung hat sich seit Anfang der 1960er Jahre verdoppelt. Die galoppierende Industrialisierung Chinas als der „Werkbank der Welt“ hat eine enorme Bevölkerungsabwanderung aus ländlichen Gebieten in die neuen Megastädte ausgelöst. Die wirtschaftliche Entwicklung des Landes hat eine neue Mittelklasse mit höherer Kaufkraft und stärkerer Nachfrage nach immer mehr Konsumgütern entstehen lassen. Chinas Rohstoffbedarf ist entsprechend gewachsen, das Land ist insbesondere auf Agrarrohstoffe angewiesen.
Mit einer landwirtschaftlich genutzten Fläche von 15% des chinesischen Territoriums muss China 22% der Weltbevölkerung ernähren. Zwar hat das Land die Produktion von Getreide, Baumwolle, Ölsaat, Zucker, Fleisch und Obst in den letzten fünfzig Jahren erheblich ausgebaut, autark ist es jedoch noch immer nicht. China exportiert wenig und auch die Importe sind nach wie vor relativ begrenzt. Die Regierung will also offenbar die Einfuhrmengen unabhängig vom eigentlichen Bedarf der Bevölkerung unter Kontrolle halten – selbst auf die Gefahr hin, dass es zu Engpässen kommt.
China ist auf absehbare Zeit von Lebensmittelimporten abhängig
Genauso wie es einen Großteil seines Energiebedarfs (Öl und Gas) durch Importe deckt, wird das Reich der Mitte sich niemals vollständig selbst ernähren können. Die Antwort der Regierung ist einfach: Bei Lebensmitteln für den direkten menschlichen Verzehr (Getreide, Obst und Gemüse sowie Zucker) strebt China größtmögliche Selbstversorgung an, bei Tierfutter dagegen nur bedingt. Dies erklärt die enormen Getreidemengen (Weizen, Mais, Raps und Soja), die China sowohl ganz als auch geschrotet importiert.
Nahrungsmittel sollen im Rahmen der neuen Seidenstraße nicht nur die Ernährungssicherheit Chinas erhöhen, sondern auch seine Präsenz und seinen Einfluss in anderen Ländern stärken. Gleichzeitig könnte China jedoch zum Exporteur insbesondere von Mehrwertprodukten werden, wie man beispielhaft an Flachs und Holz sehen kann. 70% der weltweiten Flachsproduktion kommen aus Frankreich, der Großteil des Rohstoffs landet jedoch in China, das 80% aller Leinentextilien herstellt. Und obwohl China seinen eigenen Bedarf an Industrie und Holz seit Langem durch Importe deckt, ist das Land seit über 15 Jahren einer der größten Exporteure von Platten und Zwischenkomponenten für die Möbelherstellung.
China strebt ausgeglichene Import- und Exportkosten an
Durch die Entwicklung und Beschleunigung neuer Güterverkehrswege im Rahmen der neuen Seidenstraße will China auch die Transportkosten für Importe und Exporte ausgleichen. Anders ausgedrückt: Chinas wachsende Bedeutung als „Werkbank der Welt“ ist für den reibungslosen Betrieb der neuen Seidenstraße förderlich.
Das Land will durch die von der Regierung entwickelten und finanzierten Routen und Verbindungen seinen eigenen Bedarf decken, neue Märkte erschließen und durch den Export von Mehrwertprodukten Devisenreserven aufbauen. Dabei scheint jedes Mittel recht.
China könnte sich zu einem Exporteur von verarbeiteten Lebensmittelprodukten entwickeln, zu deren ersten Importeuren zweifellos die Schwellenländer Afrikas und Zentralasiens gehören würden. Grundlage dieser Produkte könnten Rohstoffe sein, die das Land niemals vollständig autark produzieren könnte, die sich jedoch gut veredeln lassen.
==> Eine kurze Geschichtsstunde
Die Seidenstraße ging aus einer diplomatischen Mission hervor, die der chinesische Kaiser Wudi aus der Han-Dynastie (202 v. Chr. – 220 v. Chr.) in das Yuezhi-Königreich in Baktrien (einer Region zwischen dem heutigen Afghanistan, Tadschikistan und Usbekistan) entsandte, um eine strategische Allianz gegen einen gemeinsamen Feind aufzubauen. Der Botschafter kehrte dreizehn Jahre später mit detaillierten Informationen über diese Länder zurück, die China bis dahin unbekannt waren. Weitere diplomatische und Handelsmissionen folgten, nach und nach entwickelte sich ein Netz transkontinentaler Routen, das sich von China über Zentralasien und den Iran bis zum Mittelmeer erstreckte und durch Seewege ergänzt wurde. Der Name „Seidenstraße“ geht auf den Umstand zurück, dass China diesen kostbaren Rohstoff als Handelswährung einsetzte und das Geheimnis seiner Herstellung bis ins fünfte Jahrhundert eifersüchtig hütete.
— Benoît Bousquet – Direction of Economic Studies Crédit Agricole SA